Newsletter Nr. 3





Verhandlungssache

Immer wenn ich etwas in der sierra leonischen Kultur nicht verstehe, frage ich Janet um Rat. Sie ist Amerikanerin, lebt und arbeitet aber seit 22 Jahren in Freetown. Sie ist auch unter den Einheimischen hoch angesehen, denn sie weiß so ziemlich alles über dieses Land und sie kann sehr gut diplomatisch verhandeln und vermitteln. Der private Mietvertrag des Schulleiters unserer neuen Schule in Yam's Farm wurde angeblich gekündigt und deshalb will er einen der drei Klassenräume für sich und seine Familie nutzen. Für die Leute im Dorf ist das kein Problem, für mich aber schon. Die Schule wurde zum Unterrichten gebaut und nicht als Wohnraum für Lehrer. Eine gute Lösung für dieses Problem zu finden, ist schwierig.

„Sie respektieren dich nicht, bilde dir bloß nichts ein“, erklärt mir Janet. „Du bist viel zu jung, du bist eine Frau, du bist nicht verheiratet, du hast keine Kinder und zudem wohnst du nicht hier. Nichts, was dir in dieser Kultur Respekt und Anerkennung verschaffen würde, hast du.“ Ich bin ein bisschen schockiert, so schlimm hatte ich mir meine gesellschaftliche Position nicht vorgestellt. Doch vor allem in den Dörfern herrscht wenig Demokratie. Der Chief hat das Sagen, mit einigen Dorfältesten zusammen trifft er alle Entscheidungen. Die Meinung junger Menschen und vor allem von Frauen und Unverheirateten, zählt nichts.

Doch ich habe mich an Janet gewandt, weil sie mir bisher immer weiterhelfen konnte und so haben wir auch für dieses Problem eine Strategie erarbeitet. Die Leute in der Hauptstadt können mich eher verstehen und so werde ich einen Unterstützer bei meinem nächsten Besuch mitnehmen, der meine Meinung bestärkt. Ich werde den Chief und alle Dorfältesten einladen (auch wenn ich mir ihre Aufmerksamkeit mit Geld erkaufen muss) und ihnen die Situation erklären; vor allem, dass ich nur als Repräsentantin aller Spender gekommen bin und dass die vielen Spender in Deutschland viel älter sind als ich und ihre Meinung mehr wiegt als meine. Ich werde ihnen als Option anbieten, dass sie allen Spendern das Geld für den Schulbau zurückzahlen können, wenn sie alleinige Entscheidungsgewalt haben möchten. Das werden sie nicht können und wollen. Dann werde ich die Dorfältesten auffordern, eine Lösung für die Unterkunft des Schulleiters zu finden, denn eine gute Schule ist für das ganze Dorf von Vorteil – und mich zurückziehen. Die Dorfältesten werden dann Stunden oder sogar Tage diskutieren, bis eine Lösung gefunden ist, mit der alle leben können. Ich werde dafür sorgen, dass eine Autoritätsperson (also ein verheirateter Mann in gehobenem Alter) immer wieder und vor allem unangekündigt vorbeikommt und kontrolliert, ob man sich an meine Forderungen hält.

Ich hoffe die Taktik geht auf. Aber eigentlich sollte es, denn es deckt sich mit meinen Beobachtungen, wie die Sierra Leoner Entscheidungen treffen und Kompromisse eingehen. Aber trotzdem ich versuche gut zu beobachten, fällt es mir oft sehr schwer, meine eigenen kulturellen Vorstellungen abzulegen und mich auf die Art der Sierra Leoner einzulassen...

Herzliche Grüße
Hanna



Ein paar Szenen aus dem Leben hier

Wasser und Strom
Ich wohne in luxuriösen Verhältnissen: Wir hatten bisher jeden Tag zumindest für ein paar Stunden Strom und wir haben immer Wasser. Manchmal kommt es zwar nur tröpfchenweise, aber wir müssen nicht zur Pumpe laufen. Das wundert mich, denn wir wohnen ziemlich hoch auf dem Berg. Normalerweise werden die Leitungen dort als letztes hinverlegt. Doch wir profitieren von unseren Nachbarn: zwei Minister und ein Politiker des Parlaments wohnen in unmittelbarer Nähe. Grund genug, gute Leitungen auf den Berg zu legen. Über Tag sind die Politiker unterwegs. Deshalb hatten wir tagsüber noch nie Strom. Gegen 18 Uhr, wenn sie heimkehren geht der Strom an, für ein paar Stunden oder bis zum nächsten Morgen. Um 8.30 geht der Strom wieder aus; dann, wenn die dicken Autos mit den verspiegelten Fenstern den Berg hinunterfahren.

Kleider machen Leute
Abdul ist 21 Jahre alt und er will Soldat werden. Nicht, dass er besonders gerne seinem Land dienen will; nein, er will zum Militär wegen der Uniform. Eine Uniform bedeutet Status, schon auf Entfernung wird man ihn erkennen können. Man wird ihn auf der Straße nicht mehr bei seinem Namen rufen, sondern „Sir“ oder „soldier“.
Er kommt, wie die große Mehrheit der Sierra Leoner aus sehr armen Verhältnissen und sehnt sich nach Statussymbolen. Ein Auto wird er sich wahrscheinlich nie leisten können, aber eine Uniform tut's auch. Deshalb findet man Uniformen in fast allen anerkannten Berufen. Lehrerinnen tragen zum Beispiel fast immer Uniformen und es wäre unhöflich, Lehrer oder Pastoren nur beim Vornamen anzusprechen. Die Berufsbezeichnung „teacher“ oder „pastor“ ist zwar nicht gleichbedeutend mit einem Doktortitel, aber es ist ein Titel.
Jede selbst so kleine Organisation oder Gruppe hat ein eigenes T-Shirt und die Menschen tragen es bei jeder Gelegenheit. Die meisten Sierra Leoner achten sehr darauf, dass man ihnen ihre Armut nicht ansieht. Man wäscht und bügelt seine Kleidung jeden Tag, auch die Schuhe werden täglich gesäubert. Auf dem Markt sind falsches T-Shirts von Dolce&Gabana und anderen Marken der Verkaufshit und je größer und auffallender die Uhr, desto besser (ob sie funktioniert ist Nebensache). Ein Bekannter von mir trägt immer einen USB-Stick bei sich, sichtbar am Gürtel befestigt. Benutzt hat er ihn noch nie, für ihn ist es nur Modeaccessoire.

Urkunden
Eigentlich ist Adonish 26 Jahre alt. Laut seiner Geburtsurkunden ist er 20, 22 oder 26 Jahre alt. Manchmal ist es gut, älter zu sein, manchmal ist es vorteilhaft jünger zu sein. Deshalb hat Adonish sich drei Geburtsurkunden besorgt. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht erklärt er, dass das ganz einfach geht. Vor dem Meldeamt, auf dem Bürgersteig, sitzt ein Richter an einem einfachen Holztisch, ohne Computer oder andere Unterlagen. Man sagt ihm einfach, welche Art Urkunde man benötigt und kurze Zeit später ist man um umgerechnet 9 € ärmer und eine Urkunde reicher. Adonish spielt sehr gerne Fußball und mit drei verschiedenen Jahrgängen kann er in drei verschiedenen Teams spielen. Doch nicht jeder benutzt die Urkunden für so harmlose Zwecke wie Adonish. Um eine Adoption zu erleichtern, kann man ein Kind auf dem Papier schnell zur Waise erklären, indem man sich falsche Sterbeurkunden für die Eltern anfertigen lässt. Jung und alleinstehend sollte man sein, wenn man sich bei der amerikanischen Visalotterie bewirbt (die amerikanische Botschaft verlost jedes Jahr eine limitierte Anzahl Studien- und Arbeitsvisa für Sierra Leoner und jedes Jahr bewerben sich tausende in der Hoffnung auf den American Dream) und dafür verschweigen viele Sierra Leoner gerne ihre Kinder oder ihr richtiges Alter. Mithilfe mehrerer Geburtsurkunden kann man sich auch mehrere Wahlberechtigungen besorgen und bestimmt gibt es noch viel mehr Fälle, wo Identitätsurkunden missbraucht werden.
Es ist auch keine Seltenheit, dass mehrere Menschen Besitzurkunden für das gleiche Stück Land haben. Vor allem nach dem Krieg bereicherten sich Beamten gerne, indem sie gültige Urkunden für mehrere Leute ausstellten. Ich habe von einem Fall gehört, wo der Beamte einen Hektar Land 15 Mal verkaufte und als einer der Besitzer mit der Bebauung seines Grundstücks anfangen wollte, gab es verständlicherweise großen Ärger mit den anderen Besitzern. Der Beamte, der die Urkunden ausgestellt hatte, war – natürlich – in der Zwischenzeit mitsamt dem Geld verschwunden. Da keiner der Landbesitzer die anderen 14 auszahlen konnte oder wollte, ist das Land immer noch unbebaut.

Straßenverkehr
In Freetown gibt es eine Ampel. Sie funktioniert nicht. Es gibt auch sehr wenige Verkehrsschilder. An manchen Stellen sieht man noch ein Gestell, an dem früher ein Schild befestigt war. „Wir recyceln gerne die Schilder“, erzählt mir jemand. „Die Schilder eigenen sich sehr gut für die Herstellung von Kochtöpfen.“ Ich sehe natürlich ein, dass ein Kochtopf für das tägliche Überleben wertvoller ist als ein Verkehrsschild. Aber dass Sierra Leone so ganz ohne Verkehrsregeln auskommt und man scheinbar nichts aus den vielen schrecklichen Unfällen lernt, ist mir rätselhaft. Jeden Tag höre ich von unfassbaren Unfällen, fast immer mit mehreren Todesfällen, die entweder durch die mangelhaften Autos oder die rücksichtslose Fahrweise verursacht werden. Nicht selten versagen die Bremsen auf den steilen Straßen oder die Fahrer überschätzen völlig die Geschwindigkeit auf den wenigen guten Straßen.
Letzte Woche wurde eine Warnung von der britischen Botschaft ausgegeben, dass keiner der Wassertransportmittel vom Flughafen zur Hauptstadt aktuellen Sicherheitsstandards entsprächen... Das habe ich bei meiner Überfahrt gemerkt.