Newsletter Nr. 34





Liebe Leser,

Sierra Leone erfährt meist nicht besonders viel Lob auf internationaler Ebene - hohe Korruption, steigende Inflation, unzureichende Gesundheitsversorgung. In einem Punkt aber strahlt Sierra Leone, vor allem im Umkreis seiner Nachbarn: religiöse Freiheit und Toleranz sind stark ausgeprägt in dem kleinen westafrikanischen Land. Und die erreicht um Weihnachten herum ihren Höhepunkt. Dass Weihnachten so ausgiebig gefeiert wird, ist erstaunlich, denn laut Statistiken sind nur etwa ein Fünftel der Bevölkerung Christen.

Im Gegensatz zu Ländern, wo sich die Anhänger verschiedener Religionsgemeinschaften anfeinden oder der Staat sogar nur eine Religion erlaubt, wie in Nigeria, Guinea und Gambia, mischen und akzeptieren sich Sierra Leoner unterschiedlicher Religionen und Strömungen. Gemischte Ehen, in denen ein Partner Muslim und der/die andere Christ ist, kommen häufig vor; der zur Zeit amtierende Präsident Ernest B. Koroma ist Christ und 70 % seiner Wähler waren Muslime – so etwas kann man sich in unseren Breitengraden nicht vorstellen!

Ich finde es immer faszinierend, dieses Phänomen zu beobachten, vor allem, weil es so wenig spannungsgeladen ist und man über unterschiedliche Weltanschauungen sehr engagiert diskutieren kann, sich aber nicht anfeindet.

Was ist das Besondere in Sierra Leone? Ich habe mit Sierra Leonern diskutiert und selbst einiges beobachtet - hier sind ein paar Erklärungsansätze:

  1. Jeder glaubt an irgendwas. Es gibt keine Atheisten in Sierra Leone. Die Grundannahme, dass es einen allmächtigen Gott gibt, teilen alle und niemand stellt diese Grundannahme in Frage. Auf die Frage „Wie geht es dir?“, antworten viele mit „I thank God.“ Auch wenn das die Frage nicht direkt beantwortet (es impliziert ein „mir geht es einigermaßen, ich lebe noch ), spielt es keine Rolle, welchen Gott man meint, denn jeder sieht sein/ihr Schicksal von einer höheren Macht abhängig.
  2. Die Sierra Leoner teilen eine gemeinsame Kultur. Auch wenn Sierra Leone durch die unterschiedlichen Stämme kein geeintes Land ist, so ist es dennoch uniformer als so manches andere afrikanische Land, das durch den Kolonialismus durcheinander gewürfelt wurde. Viele Bürgers Liberias zum Beispiel sind Nachkommen ehemaliger Sklaven, die aus Amerika oder der Karibik zurückgeschickt wurden, ursprünglich aber aus unterschiedlichen Teilen Afrikas kamen. In Liberia gibt es keine jahrhundertalten Traditionen, die zum Teil über Stammesgrenzen hinaus geteilt wurden. In Sierra Leone gibt sie. Trotz Zugehörigkeit zu einer der großen Religionen sind zudem viele Menschen auch noch ihrem einheimischen Glauben verbunden. Das verbindet auch über religiöse Differenzen.
  3. Man kennt die Unterschiede nicht – oder nicht genau. Die Analphabetenquote ist sehr hoch in Sierra Leone, 70 % der Frauen können gar nicht oder kaum lesen und schreiben, unter Männern sind es etwa 40 %. Ihr Wissen über die eigene oder andere Religionen beruht auf mündlichen Informationen, Zugang zu schriftlichen Quellen haben sie nicht. Und da ja laut Punkt 1 & 2 eine gemeinsame Wertebasis da ist, spielen die Unterschiede keine so große Rolle.

Nun aber zu den Weihnachtstraditionen, mit denen sich Sierra Leone jedes Jahr für kurze Zeit in ein noch bunteres und lauteres Land verwandelt.

Vielleicht ist es das Zusammenkommen vieler Menschen, die sich freuen, feiern und teilen, was Weihnachten so beliebt macht. Während des ganzen Monats Dezember sieht man Paraden und Prozessionen von verschiedenen Gruppen, die entweder etwas aufführen oder seltsam maskiert sind. Ich fand die Masken immer etwas gruselig, aber für die Sierra Leoner sind sie Teil der Festlichkeiten.

Eine Berufsgruppe hat während der Weihnachtszeit Hochsaison: Die Schneider - denn wenn man schon zu Besuchen austritt, muss das im richtigen Outfit passieren. Familien oder auch Freunde lassen sich oft „ashoebis“ anfertigen: Man kauft meterweise den gleichen Stoff und alle lassen sich Kleider in einem ähnlichen Stil anfertigen, sodass die Zusammengehörigkeit unübersehbar ist.

Andauernder Strom ist in Sierra Leone immer ein Grund zur Dankbarkeit, im Dezember aber wird er besonders geschätzt, denn nur so kann man für die gesamte Nachbarschaft wirksam die Soundsysteme und Musikanalagen auffahren. Ein wenig problematisch wird es, wenn mehrere Nachbarn (mit unterschiedlichen Musikgeschmäckern) eine Musikanlage besitzen und alles im Umkreis von einem Quadratkilometer beschallen. Besonders beliebt sind Remixe von „White Christmas“ und „Jingle Bells“ – denn es ist ja so kalt in Sierra Leone! Die Temperaturen sinken nachts manchmal auf unter 20 Grad – fast so müsse sich Schnee anfühlen, meinte ein Freund einmal zu mir.

An den Weihnachtstagen und bis zum neuen Jahr teilt man Unmengen von Essen und liebgemeinten Karten - und ist ganz einfach dankbar: für das vergangene Jahr mit seinen positiven und negativen Seiten.

Wenn ich in den Medien darüber lese, zu welchen Anfeindungen sich Anhänger unterschiedlicher Religionen hinreißen lassen, wie Asylsuchende in Deutschland und anderen europäischen Ländern behandelt werden, muss ich oft an die Sierra Leoner denken und wie sehr sie doch in diesem Aspekt Vorbild für uns sein können. In Gedanken daran wünsche ich euch ein frohes Weihnachtsfest mit vielen Momenten der Dankbarkeit, des gegenseitigen Verständnisses, der Freude und des Teilens.

Bis zum nächsten Newsletter in 2017,
Hanna